Geschichte

Nordpol und Sulzschneid

1910, das war das Jahr, als es auf der Reeperbahn in Hamburg rundgeht: Der FC St. Pauli wird gegründet. Der Karlsruher SC holt die deutsche Fußball-Meisterschaft. In Brüssel wird die Weltausstellung eröffnet. Der Kaiser von China schafft die Sklaverei ab und verbietet den Menschenhandel. Über Deutschland schwebt das erste deutsche Passagierluftschiff LZ 7, es bricht zu einer Probefahrt von Friedrichshafen nach Düsseldorf auf. Aufbruchstimmung herrschte auch in kalten Regionen. Der Brite Robert Scott und der Norweger Roald Amundsen starten auf getrennten Wegen zum Südpol, den sie als Erster erreichen wollen. Aufbruchstimmung herrschte ebenso in Oberdorf: Der Bahnhof erhält 1910 elektrisches Licht: „Diese Neuerung wird sowohl von den Beamten und Bediensteten als auch vom Publikum aufs Lebhafteste begrüßt“, hieß es in der Zeitung, dem „Oberdorfer Landboten“.

258 Männer, 251 Frauen

Sulzschneid war 1910 eine eigenständige Gemeinde mit 509 Einwohnern (258 Männer und 251 Frauen). Zum Vergleich: In Oberdorf lebten 2321 Personen. Bürgermeister war Franz Xaver Hindelang, Beigeordneter Johann Baptist Strobel und Pfarrer Heinrich Edel. Schon zur Gründung des Schützenvereins standen zwei Punkte hoch im Kurs: Sport und Pflege der Gemeinschaft. 1910 wurde von einem Stand im Nebenzimmer in die Stube geschossen, die Mitglieder brachten dazu ihre eigenen Stutzen mit. Schützenmeister von 1910 bis 1914 waren Max Dodel, Peter Guggemos und Michael Baur.

Zwei Vereine

Allerdings wirft diese Überlieferung Fragen aufwirft. Die Frage nämlich, ob 1910 tatsächlich der Gründungstag der Kleintiroler Standschützen ist. Denn es existieren Aufzeichnungen eines Briefverkehrs zwischen den Ämtern und einer Zimmerstutzengesellschaft, die weiter zurückreichen, nämlich bis ins Jahr 1871. Auch die Zeitung spricht 1910 von zwei Vereinen: der Zimmerstutzengesellschaft und einem Radler-Schützen-Verein.

Wurzel im Jahr 1908

So steht am 18. März 1908 im „Oberdorfer Landboten“ geschrieben: „Verflossenen Sonntag versammelten mehrere junge Leute im Gasthause zum Hirsch dahier behufs (also: zum Zwecke von) Gründung eines Radfahrerklubs. Dem neugegründeten Klube traten sofort 35 Mitglieder bei. Als 1. Vorstand wurde sodann Herr Peter Guggemos, als 2. Vorstand Herr Georg Schreyer, als Kassier und Schriftführer Herr Michael Bauer, als Fahrwart Herr Johann Kösel und als Ausschussmitglied Herr Joh. Bapt. Hindelang gewählt. Als Klublokal wurde auf 1 Jahr das Gasthaus z. Hirsch (Lohbrunner) bestimmt. Der junge Verein möge wachsen und gedeihen. All Heil!“ Der Gründungstag des Radfahrerklubs war also der 15. März 1908.
Aber: Im Jahr 1908 ist nur noch einmal über den Radfahrerklub berichtet, als er nämlich an der Standartenweihe des Radfahrer-Vereins Ingenried teilnahm. 1909 wird er überhaupt nicht erwähnt. Er taucht erst wieder im Jahr 1910 auf, und dann eben als Radler-Schützen-Verein. Weil es an Protokollen fehlt, gehen wir einmal davon aus, dass die Radler 1910 zum ersten Mal auch schossen und dies somit die eigentliche Geburtsstunde der Kleintiroler Standschützen ist.

In freier Wildbahn

Wie dem auch sei. Es zeigt sich zumindest, dass es in Sulzschneid bereits zu Urgroßvaters Zeit fröhlich zuging. Weil dem Verein viele Jäger angehörten, schossen diese auch mal in der freien Wildbahn mit großkalibrigen Gewehren auf Schützenscheiben, wie ein Exemplar zeigt. Noch gut sind auf der Rückseite die großen Austrittslöcher zu erkennen. Und in der Zeitung stand an jenen Tagen: „Das Preisschießen war zahlreich besucht und verlief in sehr humorvoller Stimmung.“ Das trifft auch heute noch zu. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Schießen unter dem ersten Schützenmeister Jakob Groß, dem Förster, wieder begonnen. Jungschützen, so notierte der Chronist damals, gab es nur zwei. Nur deren Väter hatten den Beitrag gezahlt. Schon bald nach Hitlers Machtergreifung endete in Sulzschneid im Zuge der Gleichschaltung der Vereine unter den Nationalsozialisten das Schießen als sportliche und gesellige Veranstaltung. Derartig gefestigte Zusammenschlüsse, die vielleicht noch nicht einmal einen arischen Ursprung nachweisen konnten, waren den Nazis obskur. Es sollte an anderen Fronten geschossen werden. Leider.

Alte Stutzen versteckt

Anfang 1950 begann in Sulzschneid wieder der Schießsport. Was die Alliierten etwas verwunderte, denn eigentlich waren alle Gewehre eingezogen und vernichtet worden. Sie hatten wohl nicht mit den Schützenkameraden Max Dodel, Johann Guggemos, Michael Baur und Josef Klaus gerechnet. Sie hatten ihre alten Stutzen versteckt und mit ihnen nun den Schießsport vorangebracht. Wie schon 1910 stand nun auch 40 Jahre später der Gemeinsinn im Mittelpunkt allen Handelns. So wundert es nicht, dass der neue Zusammenschluss am 25. Februar 1950 als Geselligkeitsverein Sulzschneid gegründet wurde. In der Satzung steht geschrieben: „Der Verein stützt sich auf die Tradition der alten Schützenvereine und dient dem Zweck geselliger Unterhaltung, welche im Scheibenschießen, Tischtennis und anderer geselliger Unterhaltungen, je nach Wünschen und Anregungen aktiver Vereinsmitglieder Ausdruck findet. Jeder Unterhaltungssuchende beiderlei Geschlechts von mindestens 16 Jahren kann als Mitglied aufgenommen werden. Als Aufnahmegebühr wurde 1 DM festgesetzt. Der Jahresbeitrag beträgt 2 DM, welcher halbjährlich zu bezahlen ist. Vorstand Georg Brugger.“

81,63 DM in der Kasse

Auf Brugger folgte bald Josef Klaus als Schützenmeister, er war es bis 1953. Von 1953 bis 1955 hatte Florian Schafroth das Amt inne, ehe die jahrzehntelange Ära Edwin Knestel begann. Mit einem Kassenbestand von 81,63 DM hatte er die Führung übernommen. Ein Vereineschießen musste die sonst spärlichen Einnahmen etwas in die Höhe treiben. Einen Meilenstein in ihrer Geschichte setzten die Schützen 1958. Dieses Jahr brachte gleich drei wegweisende Neuerungen: die Schützenkette, die Fahne und den Namen des Vereins. Bei einer Ausschusssitzung war die Idee geboren und zunächst eine Schützenkette in Auftrag gegeben worden. Die Sulzschneider trugen große Spendierhosen, denn innerhalb von nur zwei Tagen hatte der Verein so viele Taler und Spenden zusammen, dass es für die Kette reichte. Und für ein solch schmuckes Stück war ein entsprechend bedeutsamer Name nötig. Immer nur Geselligkeitsverein sollte die Schützengemeinschaft nicht heißen. Aber welcher Name passte? Nach einigem Überlegen beim oberen Wirt hatte laut Überlieferung Josef Barnsteiner die zündende Idee: „Wir werden doch sowieso von allen die Tiroler genannt“, sagte er, „warum also nicht Kleintiroler Standschützen.“ Wie gut der Gedanke war, zeigt sich bis auf den heutigen Tag.

Wahre Gemeinschaft

Die dritte Neuerung in diesem besonderen Jahr war der Kauf der Fahne. Weil die Sulzschneider keine Leute sind, die nur halbe Sachen machen, hieß es auch in diesem Fall: Entweder gescheit oder gar nicht. Das erklärt auch, weshalb unsere Fahne das eher ungewöhnliche Maß von 140 mal 140 Zentimeter besitzt. Ein Problem gab es allerdings: In der Kasse befanden sich nur 800 Mark, die Anzahlung allein aber verschlang schon 1000. Also wurde erneut im Dorf gesammelt und wieder zeigte sich, was eine wahre Gemeinschaft ist. Das Aushängeschild des Vereins kostete insgesamt 2800 Mark. Viel Geld, wenn man bedenkt, dass ein Vierpersonenhaushalt damals über ein durchschnittliches Einkommen von 637 Mark verfügte. Die Bildzeitung kostete 10 Pfennig, ein Liter Milch 43 und ein Liter Normalbenzin 62 Pfennig. Die Maß beim Oktoberfest war für 1,70 DM zu haben. Und unsere Schützenfahne? Die kostete genau so viel wie eine BMW Isetta 300 mit 13 PS. Die Weihe der Fahne war für den 1. Mai 1960 zum 50-Jährigen geplant. Weil aber Johann Guggemos als treues Mitglied und großherziger Spender sehr krank geworden war, zog der Verein die Weihe um ein Jahr auf den 1. Mai 1959 vor. Den Tag selbst hat Guggemos trotzdem nicht mehr erlebt. Aber ihm war die Fahne noch am Totenbett gezeigt worden.Die Weihe selbst stand unter keinem guten Stern, obwohl die Edelweiß-Schützen aus Thalhofen die Patenschaft übernommen hatten. Es goss sintflutartig, hieß es im Bericht des „Allgäuer“. Dennoch waren der Gottesdienst und die anschließende Feier sehr festlich. Gauschützenmeister Rättich aus Kaufbeuren hatte das wohl größte Lob parat. Er sprach von einer selten schönen Fahne. Recht hat er. In der Vereinschronik steht dazu geschrieben: „Am 1. Mai 1959 wurde die lang ersehnte Fahnenweihe abgehalten, welche bei sehr schlechter Witterung kein Erfolg für den Verein war. Zum Erstaunen war es dafür der sehr stark besuchte Tanz am Abend, welcher mit viel Feuchtigkeit sein Ende nahm.“

Unten Kartenspieler, oben Schützen

Das Schießen erlebte in Sulzschneid in den Folgejahren einen Aufschwung. Der war offenbar so groß, dass Edwin Knestel 1962 um Platz nachfragte. Das Ergebnis: Die Vereinswirtin stellte einige Räume zum Umbau in einen Schießstand zur Verfügung. In den Wintermonaten ging es an den Bau der drei neuen Schießstände. „Den kleinen Nachteil, dass Kartentisch und Schießstände zwei Stockwerke voneinander entfernt sind, nahmen die meisten in Kauf, ist nun doch das lästige Aufbauen des alten Stands weggefallen.“ Das ist heute noch unser Traum fürs Vereinsheim.1970 wurde wieder einmal gefeiert, diesmal drei Tage lang. Das hatte einen besonderen Grund, denn die Schützen begingen ihr 60-Jähriges und der Trachtenverein „Hohenwaldegger“ sein 50-Jähriges. Am Festzug beteiligten sich 42 Schützen- und Trachtenvereine, neun Musikkapellen und vier Festwagen. Mit der Gebietsreform 1972 wurde auch Sulzschneid der Stadt Marktoberdorf zugeschlagen. Das führte dazu, eine Stadtmeisterschaft mit allen Schützenvereinen des Stadtgebiets auszuschreiben. Die Kleintiroler zeigten dabei gleich, wer Herr im Ring ist, denn „Sulzschneid schnitt dabei ganz groß ab“, ist im Protokollbuch zu lesen. Erster Stadtkönig war mit Cyprian Barnsteiner natürlich ein Sulzschneider.

Ein Meilenstein

Der nächste Meilenstein in unserer Geschichte wurde 1980 im wahrsten Sinne des Wortes errichtet: das Vereinsheim mit,so stand geschrieben, „acht ruhigen Ständen mit elektrischem Antrieb. Nun können wir unsere Leistung verbessern“. Schützenmeister Edwin Knestel sah sich nicht nur in diesem Punkt der Tradition verpflichtet, als er bei der Einweihung dazu aufforderte, „weiterzubauen, was unsere Väter und Großväter schufen“. Mit dem Umzug war auch der Grundstein gelegt für eine erfolgreiche Jugendarbeit. Als die Welt von Glasnost und Perestroika sprach, immer mehr Menschen in der DDR ihrem Land den Rücken kehrten, kam es auch in Sulzschneid zu einem Umbruch. „Generationswechsel vollzogen“ hieß es damals in der Allgäuer Zeitung. Gleichsam mit dem Jahreswechsel 1988/89 rückte Konrad Rauch als neuer Schützenmeister an die Spitze und löste damit Edwin Knestel ab, der das Amt 33 Jahre lang inne hatte. Ebenso ließ sein Stellvertreter Hans Settele I mit Hermann Kösel einen Jüngeren vorrücken. Settele blieb allerdings noch einige Jahre Jugendleiter. Ohnehin zeichnen sich die Kleintiroler durch eine hohe Konstanz aus. Denn der Vorstand aus dem Jahr 1988/89 ist, bis auf wenige kleine Wechsel, immer noch aktiv. Dessen Urgestein ist Alfred Einsiedler, schon seit 1978 Schriftführer.

Niveau wie in der Bundesliga

Welch exzellente Vorarbeit deren Vorgänger geleistet hatten, sollte sich bald zeigen. Die Mannschaften, die sich am Rundenwettkampf des BSSB beteiligten, wurden immer erfolgreicher. Höhepunkte waren dabei der Aufstieg in die Bezirksliga (2001) und in die Bezirksoberliga (2002), der die Kleintiroler bis 2007 angehörten. Dabei ist zu bedenken, dass es sich bei der Bezirksoberliga um die vierthöchste Klasse in Deutschland handelt (nach Bundesliga, Regionalliga und Bayernliga). Auch die Ergebnisse waren und sind hervorragend. Resultate über 390 Ringe sind keine Seltenheit mehr. Der Vereinsrekord, gehalten von Petra Fischer, der neuen Stadtmeisterin (Glückwunsch), liegt bei 396 von 400 Ringen. Das ist Bundesliganiveau. Hinzu kamen in verschiedenen Altersklassen vordere Plätze bei schwäbischen und bayerischen Meisterschaften. Derzeit beteiligt sich Sulzschneid bei den Erwachsenen mit vier Mannschaften an den Rundenwettkämpfen von der Gauoberliga bis zur D-Klasse, bei der Jugend ist es eine Vertretung.Ergänzt wird diese Reihe von Erfolgen beim Gauschießen, an dem regelmäßig bis zu 1400 Schützen aus dem Gau Kaufbeuren-Marktoberdorf teilnehmen. Neben dem guten Abschneiden der Mannschaften sind einige Ereignisse besonderes herauszuheben. So wurde Johannes Schneider 1992 Gaujugendkönig, Markus Schmid fuhr 1996 als Gaukönig gleich mit einem neuen Auto nach Hause und Alfred Einsiedler freute sich 2002 über die Insignien des Gauvizekönigs.2003 erfolgte die Restaurierung der Vereinsfahne. Es gab ursprünglich angesichts der Kosten Überlegungen, eine neue Fahne fertigen zu lassen. Doch alle Experten rieten zu einer Restaurierung. Die Fahne sei einfach zu schön, um sie im Schrank ein kümmerliches Dasein fristen zu lassen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Wir haben wieder ein Prachtstück.

Ein Schmelztiegel von Jung und Alt

2004 beteiligten sich die Sulzschneider sehr rege am Schießen für die „Kartei der Not“, dem Leserhilfswerk der Allgäuer Zeitung, das unschuldig in Not geratenen Menschen in der Region hilft. 141 Personen waren an die Stände gekommen. Diese Aktion gab die Initialzündung dafür, in Sulzschneid nach langer Zeit ein Vereineschießen auszutragen. Gesagt, getan. 2009 fand es mit sage und schreibe 176 Personen statt. Nicht nur bei der Siegerehrung erlebten die Teilnehmer einen gemütlichen Abend. In alle den Jahren pflegten die Mitglieder stets die Gemeinschaft mit diversen Veranstaltungen und vertraten den Verein bei zahllosen Festzügen. Gerade solche Veranstaltungen, zu denen sich noch heute Alt und Jung einfinden, waren und sind es, die unsere Vorväter bei der Gründung der Kleintiroler Standschützen Sulzschneid im Kopf hatten. Der Schießsport sollte die Menschen im Dorf zusammenführen. Vor 100 Jahren genauso wie heute.

(zusammengestellt zum Festakt 100 Jahre Kleintiroler Standschützen Sulzschneid von Andreas Filke (c) )

Sulzschneid, das Dorf der Vielfalt